12 Thesen: Lehranalyse für ErzieherInnen?

01.12.2000 18:26
avatar  Dr.Eduard Schellhammer ( gelöscht )
#1
Dr
Dr.Eduard Schellhammer ( gelöscht )

Schweizerische Bildungsakademie für Individuation
Dr.Eduard Schellhammer
Apartado de Correos 393 - 29670 San Pedro Alcántara (Spanien) - Tel: 0034-952 886 142
E-Mail: info@reatoncenter.com Webpage: www.reatoncenter.com

12 Thesen: Lehranalyse für ErzieherInnen?
Für Pädagogen, Andragogen, Sozialpädagogen, Lehrer und Bildungsverwalter?

Vorbemerkung: Jeder Psychoanalytiker muss eine Lehranalyse absolvieren. Die Gründe sind vielfältig, zum Beispiel: Die Lehranalyse ist eine Selbstanalyse und Selbst-Entfaltung, die ein 'gesundes' persönliches Fundament für die analytische Tätigkeit schaffen soll. Was ein Psychoanalytiker bei seinen Klienten analysiert, soll er an sich selbst erproben. Das eigene Unbewusste ist aufzuarbeiten und allfällige Komplexe sind dadurch zu befreien. Auch Projektionen und Abwehrmechanismen zu erkennen und in die Ich-Führung zu integrieren, gilt als Voraussetzung für die Berufspraxis. - Es gibt in den pädagogischen Berufsfeldern gewiss die sog. "Supervision". Doch dieser Erfahrungsraum erreicht die Tiefen des psychischen Lebens nicht. Muss man deshalb eine systematische Selbstanalyse und gründliche Selbstentfaltung als Teil der Ausbildung (Weiterbildung) auch für alle (päd-)agogischen Berufe fordern? Dazu die folgenden Thesen zur Diskussion:

1. Der (päd-)agogisch Tätige hat ein Unbewusstes, d.h. ein "Reservoir" voller Lebens-erfahrungen ab der vorgeburtlichen Zeit, Bilder über die Menschen und das Leben, Bilder mit Sinn und Wert, Bilder über Normen, Gebote und Sanktionen, Bilder mit Komplexcharakter oder 'kritischer' Belastung u.ä.m. Dieses Inventar ist überwiegend unbewusst, nicht selten emotional stark geladen, voller Gegensätze, teils konstruktiv und teils destruktiv bzw. geeignet und ungeeignet für die Lebenserfüllung. Viele (päd-)agogischen Handlungen sind davon mitgesteuert. Der Pädagoge kann nur soweit "erziehen", wie er diese Wirklichkeit bei sich selbst und beim Educandus erkennt und formen, bilden, verändern, berücksichtigen kann.

2. Der Pädagoge einerseits - und der Educandus anderseits - hat eine Vielfalt an Abwehrmechanismen und Projektionstendenzen, die immer die (päd-)agogische Interaktionen mitbeeinflussen. Viele erzieherischen Interaktionen scheitern, weil das analytisch-methodische Prinzip "Widerstand kommt vor Inhalt" nicht erkannt und demzufolge methodisch (erzieherisch) nicht angemessen beachtet wird. Der Pädagoge "erzieht" so, wie er die Abwehrmechanismen und die Projektionsdynamik bei sich selbst und beim Educandus erkennt und damit umgehen kann.


3. Der Pädagoge und der Educandus haben eine Vielfalt an psychischen Grundbedürf-nissen, zum Beispiel: Autonomie, Selbstidentität, Liebe, Geborgenheit, Wahrhaftig-keit, Authentizität, Vertrauen, Glück, psycho-soziale Sicherheit, Integrität, Entfaltung aller psychischen Kräfte bzw. Potentiale u.s.w. Der Pädagoge kann nur soweit zur authentischen Entfaltung "erziehen", wie er diese Bedürfnisse bei sich selbst und beim Educandus erkennt und damit den Weg zur Erfüllung bereiten kann.

4. Der Pädagoge und der Educandus haben je eine Vielfalt an Gefühlen mit ganz unterschiedlichen Charakteristiken, zum Beispiel: Intensität, Dauer, Wirkungsweise, Ausdruck, Ursachen, Sinn und Wert. Manche Gefühle sind schnell überlagert von andern Gefühlen, transformieren sich durch Verdrängung in andere Gefühle oder sind Ausdruck einer biografischen Kettenreaktion. Der Pädagoge erzieht im Gefühlsbereich in der Weise, wie er die eigene Gefühlswelt und diejenige des Educandus erkennt, berücksichtigt und bewältigen kann.

5. Der Pädagoge und der Educandus haben jede Nacht Träume. Träume enthalten Botschaften über den Menschen und sein Leben, über alle Aspekte des Mensch-seins. Träume informieren, warnen, beraten, führen, erziehen, bereiten Wandlungen und Lösungen vor. Träume handeln vom gesamten psychisch-geistigen und realen Sein des Menschen. Träume sind geschaffen von einer inneren geistigen Kraft mit andragogischer Absicht. Nur diese Kraft - und niemals eine Theorie - kann den Menschen ganz zu sich selbst führen. Der Pädagoge erreicht das Menschsein "erzieherisch" soweit, wie er die eigenen Träume und diejenigen des Educandus ernst nimmt, versteht und als entscheidende Lebensfunktion berücksichtigt.

6. Die Liebe ist eine komplexe psychische Leistungskraft mit essentiellen Tendenzen, zum Beispiel: das Leben ganzheitlich entfalten, Freude am Leben aufbauen, alle psychischen Kräfte ernst nehmen und bilden, das gesamte psychische Leben integrieren, den Lebensraum aus dem Innern gestalten, die psychisch-geistige Evolution "mit Geist" verwirklichen. Die Liebe kann verzeihen, versöhnen, verstehen, Geduld üben, Güte leben, gewähren lassen, verzichten und Leidvolles transformieren. Was ist das Menschsein ohne die Liebe? Der Pädagoge kann nur soweit mit Liebe und zur Liebe "erziehen", wie er die eigene Kraft der Liebe durch Selbstanalyse und Selbstentfaltung ernst nimmt, bildet und lebt.

7. Das Leben der Menschen ist weitgehend gekennzeichnet von Lebenslüge und partieller Schizofrenie - das heisst: die Menschen ignorieren ihr inneres Sein und spalten es ab, obwohl hinreichend ausgewiesen ist, dass das Verdrängte immer "zurückschlägt". Ueberall begegnen wir dem Lügen, Verdrehen, Entstellen, Intrigieren, Verdecken, "Theaterspielen" und der Unehrlichkeit sich selbst gegen-über. Masken und Fassaden sowie Narzissmus und Egozentrismus zeichnen das Selbstsein. Der Pädagoge "erzieht" zur Authentizität, wie er die Arten der Entstellung des Menschseins durch Selbstanalyse und Selbstentfaltung erkennt, davon selbst frei wird und damit aufbauend umgehen kann.

8. Das menschliche Leben ist voll von Schwierigkeiten, Krisen, Problemen und Konflikten. Dies ist eigentlich ein ganz normaler Teil des Lebens. Trotzdem machen die meisten Menschen diesbezüglich sich selbst und anderen etwas vor; sie ver-drängen ihr eigenes 'konfliktäres Sein'. Man muss dazu Lebenstechniken, Bewäl-tigungsmethoden und Strategien der Lösung lernen. Und das bedeutet gleichzeitig ganzheitliche Selbstbildung. Der Pädagoge kann nur soweit zur Bewältigung des konfliktären Menschseins "erziehen", wie er sein eigenes konfliktäres Menschsein durch Selbstanalyse und Selbstentfaltung kompetent managen kann.

9. Christliche, esoterisch-spirituelle und psycho-ideologische Erziehung praktizieren nicht die allseitig ausgewogene Bildung des umfassenden psychischen Menschseins. Sie schliessen das Unbewusste, die Abwehrmechanismen, die Funktion der Libido in den Projektionen, das Traumleben und die Individuation mit ihren archetypischen Prozeduren weitgehend oder ganz aus. Ihre Erziehung basiert auf Mythen, auf spirituellen Konstruktionen oder technologischer Reduktion. Der Pädagoge hat zur allseitig ausgewogenen Menschenbildung nur soweit erzieherische Kompetenz, wie er durch Selbstanalyse und Selbstentfaltung ein umfassendes, innen verwurzeltes, evolutionäres Menschenbild erzieherisch praktizieren und auch vorleben kann.

10. Die primär menschlichen Folgen bisheriger Konzepte der Erziehung und Bildung in Deutschland sind: 9 Mio leiden an Depressionen und 8 Mio an Migräne, über 3 Mio stottern, 8 Mio haben soziale Phobie und 5 Mio chronisch Aengste, 7 von 10 haben Wirbelsäuleprobleme, eine Million hat Suicidgedanken, jeder Dritte leidet an Schlafstörungen und 11 Mio an chronischen Schmerzen, bei 7 Mio nagt Impotenz, 50% der Erwachsenen haben Uebergewicht, bei 35 (45?) Mio quält Verstopfung, jedes zweite Kind hat Uebergewicht und Haltungsschäden, jedes zehnte Kind ist Opfer von Gewalt in der Familie und jede dritte Gewalttat geschieht in der Ehe und Familie, über eine Million Unfälle aller Art mit vielen Toten und Verletzten, 1 Mio asthmakranke Kinder, 14 Mio Jugendliche mit Gehörschäden, jedes 5. Kind im Vorschulalter hat Sprachstörungen, mehrere Millionen sind süchtig (Nikotin, Alkohol, Drogen aller Art, Medikamente, Spiel, Konsum, Schokolade, Porno-graphie, Essen, Fernsehen, Handy u.s.w.) und weitere Millionen leiden psychisch oder psycho-somatisch infolge ihres nicht geeignet gebildeten psychisch-geistigen Menschseins. - Mindestens 50% dieser Leiden lassen sich durch allseitig ausgewogene Erziehung und Bildung reduzieren! Das verlangt aber, dass die erzieherisch (agogisch) Tätigen in Forschung, Lehre und Praxis ein allseitig ausgewogenes Menschsein lehren, "erziehen" und dieses auch selbst verwirklichen.

11. Individuation ist konstitutiv für die Erziehung und Bildung im dritten Jahrtausend; sie beinhaltet im Kern: Selbstanalyse (Selbsterkenntnis), Aufarbeitung des Unbe-wussten und damit der Biografie, Integration und Formung aller Personaspekte und des innerpsychisch Gegengeschlechlichen, Formung der Selbstidentität (als Mann bzw. Frau), Integration der Sexualität mit Liebe und Verstand, Leben aus der Kraft der Liebe, Freiwerden von Neurose und Egozentrismus, Erlernen von Sozialkompe-tenzen (zuerst vor allem in der persönlichen Beziehung), Lebenskultur und Umweltgestaltung aus dieser inneren Bildung, Einfügung in die andragogische Kraft des Geistes (der die Träume und die richtig gestalteten Meditationen schafft), allseitig ausgewogene Bildung aller psychischen Kräfte zwecks Vollzug der arche-typischen Prozeduren zu einem evolutionären Menschsein, und auf der Ziel-Stufe: Verwirklichung des höchsten Mandalas des Menschseins. Will der Pädagoge solche Prozesse beim Educandus fördern, muss er selber in diesem Bildungsprozess der Individuation leben.

12. Traditionelle Konzepte der Pädagogik und Andragogik machen glauben: Das Unbewusste ist unbedeutend; die Abwehr- und Projektionsmechanismen sind unwichtig; die psychischen Grundbedürfnisse sind nur beschränkt zu beachten; die Gefühle sind zu verdrängen; die Träume sind bloss 'hirnphysiologischer Abfall'; die Liebe ist Privatsache; Individuation ist erzieherisch und andragogisch irrelevant; Narzissmus, Egozentrismus und das konfliktäre Menschsein haben wenig zu tun mit Pädagogik, Sozialpädagogik und Andragogik. - Was ist das für eine Bildungskon-zeption und Bildungspraxis, die fast die gesamte innerpsychische Wirklichkeit und damit die Individuation ignoriert? Was hat es für kollektive Langzeitfolgen, wenn die Erziehung, Bildung und Weiterbildung die oben genannten menschlichen Bereiche nicht zum festen Bestandteil ihres Menschenbildes und ihrer Praxis integrieren? Darum: Will die Pädagogik (die Sozialpädagogik und die Andragogik) in Lehre, Forschung und Praxis die Menschen hin zu ihrem authentischen Menschsein formen - und dies auch für das Wohl der Gesellschaft sowie der Natur- und Tierwelt, braucht sie für das dritte Jahrtausend ein neues visionäres andragogisches Menschenbild. Und dazu gehört implizit: Die Individuation ist die unerlässliche "andragogische Lehranalyse" für alle (päd-/ sozialpäd-) agogischen Berufe in Lehre, Forschung und Praxis sowie in der Bildungsverwaltung. Das europaweit einmalige Bildungskonzept dazu hat der Verfasser theoretisch, didaktisch und praktisch als Bildungsprozess umfassend entwickelt.

P.S. Die 12 Thesen sind entnommen aus dem Werk "Visionen zur Menschenbildung".
Sie können diese Thesen mit dem Verfasser diskutieren:
Dr.Eduard Schellhammer
E-Mail: info@reatoncenter.com


 Antworten

 Beitrag melden
Bereits Mitglied?
Jetzt anmelden!
Mitglied werden?
Jetzt registrieren!